Getötet als Hexe
In abgelegenen, verarmten Regionen Indiens sind Aberglaube und schwarze Magie noch immer weit verbreitet.
Neu Delhi (AFP) – Ganita Munda wird die Hilfeschreie seiner Familie nie vergessen. Im Juli ermordete ein wütender Mob von Dorfbewohnern seine Eltern und vier seiner Geschwister, das jüngste Kind drei Jahre alt. Der 17-Jährige selbst flüchtete in einen nahe gelegenen Wald, wo er stundenlang allein im Dunkeln ausharrte. „Ich weiß noch immer nicht, wie ich überlebt habe“, sagt er in einem Kinderheim im Bundesstaat Orissa. Grund der grausamen Tat der Nachbarn: Ganitas Mutter wurde als Hexe bezichtigt und für Krankheitsfälle unter den Kindern des Dorfes verantwortlich gemacht.
In abgelegenen, verarmten Regionen Indiens sind Aberglaube und schwarze Magie noch immer weit verbreitet. Dutzende Menschen sterben jährlich bei Hexenjagden – vor allem Frauen. 2014 wurden nach jüngsten Regierungsangaben in 13 Bundesstaaten 160 Hexenmorde verübt, 32 davon in Orissa im Osten des Landes. Seit der Jahrtausendwende gab es rund 2300 Todesopfer.
Ganita wird nun in einem Kinderheim im Nachbarbezirk Keonjhar betreut. Neben den seelischen Verletzungen trug der 17-Jährige eine Stichwunde im Bauch davon. Zehn Menschen wurden bisher festgenommen. Im August machte ein Fall aus dem benachbarten Bundesstaat Jharkhand Schlagzeilen, wo fünf Frauen aus ihren Häusern gezerrt und zu Tode geprügelt wurden. Zuvor hatte ein selbsternannter Arzt erklärt, einige Einwohner seien an einem Fluch dieser „Hexen“ gestorben. Die Polizei nahm 27 Menschen fest.
Polizeichef Bijay Kumar Sharma erklärt Hexenjagden „mit dem starken Glauben der Menschen in solch abgelegenen Gegenden, dass Krankheiten, Ernteschäden, der Verlust von Vieh oder ein persönlicher Rückschlag irgendwie mit Okkultismus, Hexerei oder Kalajaadu (schwarzer Magie) zu tun haben“. Im vergangenen Jahr führten einige Bundesstaaten ein Gesetz ein, das solche Beschuldigungen mit Gefängnis- und Geldstrafen ahnden soll.
Experten fordern darüber hinaus bessere Bildung und Aufklärung zur Bekämpfung des Aberglaubens. „Unwissenheit über Gesundheit, Recht, Landwirtschaft oder Viehzucht sind die Wurzel solcher Taten“, sagt der Menschenrechtler Sashiprava Bindhani.
Auf Indiens rasantem Weg in die Moderne blieben viele bitterarme Gegenden auf der Strecke, wo sich solche Verbrechen nun häufen. In diesen Regionen mangelt es an medizinischer Versorgung, so dass Wunderheiler zu Werke gehen und unerklärliche Krankheiten oder Unglücke mit schwarzer Magie erklären. „Um das Problem anzugehen, muss der Mangel an Information und Grundversorgung behoben werden“, fordert Bindhani.
Zu grausamen Hexenjagden kommt es auch bei Familienfehden oder Landstreitigkeiten – allzu oft trifft es in den tief patriarchalischen Dörfern Frauen. Die Dorfräte verhängen Strafen wie Vergewaltigungen, öffentliche Schläge oder das Essen von Exkrementen – Urteile, gegen die sich die Frauen nicht wehren können. „Sehr viele werden als Hexen angegriffen, geächtet oder anders bestraft“, sagt Shashank Shekhar Sinha, der sein zweites Buch über das Thema schreibt. „Das ist wie eine Todesstrafe, nur dass man nie darüber spricht.“
Für Ganita waren die vier Stunden im Wald die „längsten und schrecklichsten“ seines Lebens. Nur sein neunjähriger Bruder Shambhunath überlebte mit ihm. Ohne Ausbildung und Familie ist die Zukunft düster. „In das Dorf oder das Leben, das er kannte, kann er nie zurückkehren“, sagt Biplab Mishra von der Hilfsorganisation Prakalpa. Nun wartet Ganita auf seinen 18. Geburtstag: „Dann werde ich anfangen zu arbeiten und mit meinem Bruder weit wegziehen.“
von Bhuvan Bagga
ric/jes